Exklusivinterview mit Carlo Lucarelli

Herr Lucarelli, aus den Informationen zu Ihrer Person geht hervor, dass Sie …
- 1960 geboren wurden
- in der Schule in Italienisch recht gut waren und bereits als Teenager erste Texte verfassten
- seit 1985 Theaterstücke schreiben (vor allem Komödien)
- Literatur und Geschichte studiert haben (ohne Abschluss) und bei den Recherchen zu Ihrer geplanten Magisterarbeit „Das Bild der Polizei aus der Sicht der Antifaschisten“ auf die Idee für Ihren erster Roman „Freie Hand für De Luca“ kamen, aufgrund dessen Sie 1990 als „Shooting Star“ der italienischen Krimiautoren gefeiert wurden
- seitdem mehr Aktivitäten ausüben, als es für eine einzige Person möglich scheint (vom Schriftsteller über den Beruf des TV-Moderators bis hin zum Sänger).
Aber was uns in diesem Zusammenhang brennend interessiert ist: Was haben Sie VOR 1990 gemacht?

Ich war Literaturstudent an der Universität von Bologna und hielt mich mit den unterschiedlichsten Gelegenheitsarbeiten über Wasser. In schriftstellerischer Hinsicht verfasste ich kleine Erzählungen und erste Romanversuche, die aber niemals aus meiner Schublade herausgekommen sind. Das einzige was mir tatsächlich gelang, waren diverse Komödien (ungefähr zehn Stück) für eine örtliche Theatergruppe. Mehr nicht.

Sie haben Ihre literarische Karriere 1990 und 1991 mit zwei Romanen begonnen, die in der Nachkriegszeit angesiedelt sind (“Freie Hand für De Luca” und „Der trübe Sommer“). Der Held, De Luca, muss nicht nur herausfinden, wer für eine Reihe von Verbrechen verantwortlich ist, sondern sich auch noch mit einer recht schwierigen politischen Situation auseinandersetzen. Dann, 1992, haben Sie mit dem Coliandro aus „Falange armata“ einen Kerl ins Krimi-Rennen geschickt, der mehr Ähnlichkeit mit Inspektor Clouseau als mit Charles Bronson hat. Und schließlich präsentieren Sie 1994, zeitgleich mit dem Coliandro-Roman „Schutzengel“ in Ihrem Buch „Lupo mannaro“ eine weibliche Heldin, Inspektor Grazia Negro.
Diese drei Protagonisten könnten nicht unterschiedlicher sein – da fragt man sich doch: Wie ist es möglich, dass sie alle friedlich nebeneinander in der Phantasie ihres Schöpfers existieren? Und wie viele andere Helden mit dem Potential einer Serienfigur hat Carlo Lucarelli im Kopf?

Da sind noch genau so viele drin, wie viele Geschichten ich in der Zukunft schreiben werde. Jeder Roman hat seine ganz eigene Stimme und braucht demzufolge eine passende Hauptfigur, um genau diese Geschichte zu erzählen. Aus diesem Grund erfinde ich immer dann einen neuen Charakter, wenn ich eine neue Idee habe; eine Idee, die sich in Inhalt und Stil von früheren Romanen unterscheidet. Dann muss ich einen Protagonisten finden, der dazu passt.
Manchmal ähneln sich die Ideen und dann kann ich einen Helden, den es schon gibt, von neuem in Aktion treten lassen.
All diese Leute können im Kopf eines Schriftstellers parallel existieren, so wie er dort drin nicht nur die Haupt-, sondern auch die Nebenfiguren für seine Romane hat. Ein Schriftsteller ist es gewohnt, gleichzeitig viele ganz unterschiedliche Persönlichkeiten in sich zu tragen.

Wie kann ein Mann so genau wissen, wie sich eine Frau fühlt – zieht man in Betracht, dass Grazia in einem Großteil von „Der grüne Leguan“ unter höllischen Regelschmerzen leidet?
Keine Ahnung, ob es mir tatsächlich gelungen ist, die weibliche Psychologie so gut zu ergründen … teilweise bin ich in diesem Unterfangen gescheitert, denn während die anderen beiden Hauptfiguren in der Ich-Form zum Leser sprechen, ist mir das mit Grazia nicht gelungen, weswegen ich hier die dritte Person benutzen musste.
Was die Art anbetrifft, wie sie ist und sich bewegt – einschließlich der Regelschmerzen – habe ich mich vorher ganz einfach schlau gemacht und dann die Adjektive, die Worte und die Ideen benutzt, die mir am passendsten erschienen.

Sie haben sich sehr mit der Zeit des Faschismus von der Mitte der Zwanziger Jahre bis zum Kriegsende beschäftigt, wie man auch im Buch „Die schwarze Insel“ (im März 2003 in Deutschland erschienen) erkennen kann. Worin liegt die Faszination dieser Epoche?
Mich fasziniert ganz stark, dass es so eine entscheidende Zeit für die italienische Geschichte ist. Eine Vergangenheit, die nicht einfach vorbei ist und aus der viele der Missstände und Charakteristiken des heutigen Italiens herrühren.
Außerdem handelt es sich bei dieser Epoche um eine sehr widersprüchliche Zeit, die unter dem Mäntelchen der Gleichheit alle Schattierungen von zwanzig Jahren Veränderung der italienischen Gesellschaft versteckt hat.
Und schließlich war dies auch eine sehr düstere und gewalttätige Zeit, was ganz gut ins Krimigenre passt.

Viele der handelnden Personen in „Die schwarze Insel“ tragen keine Eigennamen, sondern sie werden allein anhand ihrer Funktion oder der beruflichen Position unterschieden. Etwa der Kommissar oder die diversen Ehefrauen. Warum haben Sie das getan?
Weil ich den Eindruck hatte, dass das ausreichend sei. Zuweilen, etwa im Fall der „Frau des Engländers“, macht die Tatsache, dass der Name fehlt, alles etwas geheimnisvoller. Manchmal, wie etwa im Fall des Kommissars, schien mir die Charakterisierung einer Person mit wenig eigener Persönlichkeit über ihren Beruf völlig ausreichend. In dieser Geschichte ist der Mann in erster Linie Kommissar. Außerdem glaube ich, dass ihn auf jener Insel jeder so genannt hätte, ohne einen Namen hinzuzufügen.

In einem Interview haben Sie einmal gesagt, dass es Ihnen nicht besonders gut geht, wenn Sie mit einem Buch fertig sind. Warum empfinden Sie das so? Tut es Ihnen Leid, die Figuren verlassen zu müssen, die Sie dann doch für einige Zeit begleitet haben (wie man hört, brauchen Sie ca. acht Monate für ein Buch)?
Oder geht es Ihnen wie jenen Lesern, die ein „Happy End“ jener Atmosphäre von Verzweiflung (trotzdem der Fall an sich gelöst wurde) vorziehen, wie das etwa in „Die schwarze Insel“ zu spüren ist?

Ja, mir tut es Leid, meine Figuren verlassen zu müssen. Da geht es mir wie einem x-beliebigen Leser auf der letzten Seite eines Buches, das ihm gefallen hat … der wünscht sich ja eigentlich auch, da würde noch mehr kommen.
Was den Ausgang meiner Romane anbetrifft, so gestalte ich ihn aus gutem Grund so wie er ist. Wenn ein Happy End eine erzwungene Sache wäre, dann verzichte ich darauf und halte auch ein schlimmes Ende aus. Selbst wenn es mir selbst Leid tut, wie manche meiner Bücher ausgehen.

Ich habe gelesen, dass Sie vorhaben einen Krimi über den italienischen Geheimdienst zur Zeit des Kalten Krieges zu schreiben. Einen Roman, den Sie in den Fünfziger Jahren ansiedeln wollen. Ist der schon erschienen?
Nein … das ist eine Idee, mit der ich im Moment schwanger gehe. Wenn einige Details, die mir noch fehlen, geklärt sind, dann werde ich das Buch schreiben. Auf jeden Fall steht bereits fest, dass De Luca die Hauptfigur sein wird. Auch wenn er dann nicht mehr Kommissar ist. Zumindest nicht in der aktuellen Form …

Viele Ihrer Romane sind ziemlich blutrünstig – was passiert, wenn sich Carlo Lucarelli verletzt und Blut fließt?
Das was immer passiert, schon seitdem ich ein kleiner Junge war: Ich kippe um.

Sie sind Dozent für Kreatives Schreiben nicht nur in der Turiner Akademie „Holden“, sondern auch im Gefängnis von Padua. Wie unterschieden sich die Vorlesungen, die Studenten, deren Engagement und das, was sie zu Papier bringen?
Da gibt es keine großen Unterschiede.
Die Technik, die ich vermittle, um den Leuten beizubringen, wie sie eine Geschichte mit den sinnvollsten Mitteln erzählen können, ist immer dieselbe.
Was in der Tat nicht gleich ist, das sind Vorbildung – bei den Gefängnisinsassen gibt es da ein sehr breites Spektrum – und Intensität der Fantasie. Die Geschichten von jemandem, der, wie die Gefangenen, bereits sehr dramatische Dinge erlebt hat, sind viel stärker als die von Leuten, die noch nicht viel von der Welt gesehen haben, wie das bei vielen Studenten der Fall ist.

Seit einigen Jahren sind Sie auch TV-Moderator. In „Mistero in Blu“, „Blu notte“ und „Blu notte misteri d’Italia“ ging und geht es um ungelöste, echte Kriminalfälle, die Sie mit Schauspielern nachstellen.
Wie stark beeinflussen diese „wirklichen Verbrechen“ Ihre Arbeit als Schriftsteller bzw. wie gelingt es Ihnen, diese Fälle bei Ihren Romanen außen vor zu lassen?

Vieles, was mich inspiriert stammt aus der Wirklichkeit – und das ist auch ein unersetzlicher Bestandteil meiner Arbeit. Ich könnte mir die Tätigkeit eines Polizisten, die forensischen Techniken oder die Gefühle eines Menschen, der Opfer einer Gewalttat wurde, gar nicht vorstellen, wenn ich sie nicht „in echt“ kennen gelernt hätte – und sei es auch nur durch Erzählungen oder Aufzeichnungen.
Darum halte ich aus meinen Romanen nur das heraus, was für die Geschichte selbst unwesentlich ist, den Rest nehme ich und passe ihn entsprechend an.
So gründet sich etwa die Autopsie-Szene in „Die schwarze Insel“ auf Fotografien, die ich mir für eine Folge von „Blu Notte“ ansehen musste (wozu ich nicht die geringste Lust hatte). Als ich dann für meinen Roman etwas in der Art benötigte, habe ich mich an jene Bilder und meine Gefühle erinnert und sie in entsprechend abgewandelter Form in die Zwanziger Jahre auf jene Insel übertragen.

In „Der grüne Leguan“ liebt der blinde Student Jazzmusik. Sie singen in einer Post-Punk Gruppe und haben auch das Drehbuch für einen Videoclip des Sängers Vasco Rossi geschrieben. Was ist die Lieblingsmusik von Carlo Lucarelli?
Ich mag Punk – so wie er früher war, aber auch einige Sachen von heute. Italienische Gruppen wie Subsonica oder Liedermacher wie Daniele Silvestri. Auch Ethno-Musik gefällt mir. Ich höre querbeet, ein bisschen von allem, auch das, was ich persönlich nicht so sehr schätze, wenn es denn für meine Romane nützlich ist.
So bin ich persönlich zum Beispiel kein großer Jazz-Kenner, habe mich aber zu einem Experten für Chet Baker entwickelt, weil ich genau diese Musik für „Der grüne Leguan“ brauchte. Dasselbe gilt für die „Nine Inch Nails“, die der Serienmörder am liebsten hört.

Das Internet ist ein Bestandteil unseres täglichen Lebens, der immer größer wird. Sie selbst sind Herausgeber einer Internetzeitschrift namens „Incubatoio 16“ und benutzen das Netz für Ihre Recherchen.
Trotzdem haben Sie einmal gesagt, dass Sie keine Foren oder Chats besuchen „weil ich so schüchtern bin“. Stimmt das? Sind Sie wirklich schüchtern und besuchen Sie tatsächlich nie einen Chat oder ein Forum? Und wenn letzteres zutrifft – ist das Internet nicht einer der besten Orte überhaupt, um die eigene Persönlichkeit dahingehend zu verändern, dass man alles das sein kann, was man immer schon einmal sein wollte?

Ich kann mich nicht daran erinnern, etwas in der Art gesagt zu haben. Es stimmt, ich bin schüchtern, aber auch ich bin der Ansicht, dass gerade Foren und Chats wie für schüchterne Menschen gemacht scheinen. Und nicht nur das – sie scheinen noch viel mehr wie für Schriftsteller gemacht zu sein, sind diese doch Meister darin „Masken“ und erdachte Persönlichkeiten durch das geschriebene Wort sprechen zu lassen.
Um ganz ehrlich zu sein, so treibe ich mich hin und wieder in den unterschiedlichsten Chats herum, mit ganz verschiedenen Identitäten …. das ist unter anderem eine Möglichkeit, die Legende und die Glaubwürdigkeit einer erdachten Figur auszuprobieren.

Schließlich – in Anbetracht der Tatsache, dass es sich bei www.krimi-forum.de um ein Internet-Portal handelt – die obligatorische Frage: Welche Webseiten können Sie unseren Lesern empfehlen?
Oh da gibt es ziemlich viele …
Was den italienischen Krimi anbetrifft, empfehle ich einen Besuch bei Anello Giallo. Dieser „Gelbe Ring“ enthält viele Informationen, Rezensionen und Biografien.
Und dann natürlich den Camilleri Fan Club.

Vielen Dank für dieses Gespräch.
Das Interview führte Chefredakteurin Michaela Pelz (April 2003).

(Foto: WDR)