Schutzengel
Carlo Lucarelli
Original: Il giorno del lupo
Dumont gebunden
ISBN 3-7701-5240-9
Die junge, hübsche und anarchische Nikita,
die als Moped-Kurierfahrerin ein rätselhaftes
Päckchen durch einen dummen Zufall nicht
ausliefern kann, sucht Rat und gerät an ihren
alten Bekannten Coliandro.
Der wäre so gerne ein Clint Eastwood-Inspektor,
hat aber nur einen ruhmlosen Abstieg
vom
Streifenpolizisten zum Leiter der Kantinenbeschaffung
hinter sich.
Der verliebte Versager Coliandro versucht,
am Rande der Legalität den Helden zu
spielen
und lässt keine Gelegenheit aus, die
"Wölfe"
der Mafia auf seine und Nikitas Spur
zu lenken.
Nur Schutzengel können im Showdown
helfen.

Rezension:
Sie haben lange nicht gelacht?
Dann nichts wie hin in die nächste
Buchhandlung
und diesen Titel besorgt - Sie werden
es
nicht bereuen.
Da wo Inspektor Clouseau, selbst wenn
er
das tut, was gemeinhin als "Mist"
bezeichnet wird, immer noch am Ende
eine
Beförderung erhält, geht es seinem
italienischen
Kollegen Coliandro, dem Ich-Erzähler,
leider
ganz anders. Dieser arme Tropf, der
mit Vorliebe
in nur jedes verfügbare Fettnäpfchen
tritt
und dabei die Zehen seiner Vorgesetzten
und
Kollegen auch nicht auslässt, der wird
wegen
diverser Verfehlungen in die Materialbeschaffung
der Kantine versetzt - wo er als eine
seiner
ersten Amtshandlungen aus Versehen
10.000
Becher Blaubeerjoghurt bestellt ...
Und ausgerechnet diesem Menschen, dessen
zweiter Vorname "Unglücksrabe"
lauten könnte, erzählt die aus Lucarellis
gleichnamigen Roman (ebenfalls mit
Coliandro
in der Hauptrolle) bereits bekannte
"Nikita"
eine sonderbare Geschichte, die ihr
während
ihrer Tätigkeit als Fahrradkurier zugestoßen
ist. Um einen Haufen Geld geht es da,
sowie
eine Kassette und eine Diskette und
um die
Tatsache, dass das Mädchen mit der
Lederjacke,
den Springerstiefeln, Netzstrümpfen
und dem
Minirock nicht wirklich weiß, was sie
nun
tun soll ...
Als Nikita (die eigentlich Simona heißt)
dann feststellt, dass Coliandro nicht
etwa
aufgestiegen sondern im Gegenteil der
selbe
Trottel geblieben ist, wie im ersten
Band,
ist es bereits zu spät: Da stecken
der Mann
und das Mädchen schon bis zum Hals
im Blut
einer Leiche ohne Gesicht und die Verfolgung
durch Mafia und Behörden lässt auch
nicht
lange auf sich warten.
Mit einer so temporeichen Schreibe,
dass
man als Leser selbst die Beine in die
Hand
nehmen und so weit als möglich wegrennen
möchte, von dieser verfahrenen Situation,
hetzt Autor Lucarelli uns durch 140
Seiten
voller Witz, Ironie, Action und Spannung.
Er schreckt nicht davor zurück, sich
selbst
(unter dem Deckmantel eines Journalisten)
in die Handlung einzubringen, deren
Erzählablauf
immer wieder alterniert wird mit Nachrichtensprengseln,
Ausschnitten aus dem Polizeibericht,
Zeitungsartikeln
und köstlichen Abhörprotokollen. Gerade
im
Zusammenhang mit letzteren gelingt
es dem
Mitbegründer der literarischen Zirkels
"Gruppo
13" die wohl auch in der Realität
nicht
viel weniger absurden italienischen
Verhältnisse
süffisant offen zu legen, etwa wenn
der Abhörvorgang
der Zollfahnung unterbrochen werden
muss,
weil ein "Spannungsabfall der
Batterien"
vorliegt ...
In den skurrilen und aberwitzigen Szenen
- in denen das Blut durchaus auch einmal
in Strömen fließen darf - seines ereignisreichen
Plots verwendet Lucarelli eine ausgesprochen
bildreiche Sprache, in der selbst der
zahlreiche
Gebrauch einschlägiger Ausdrücke weder
aufgesetzt
noch abstoßend vulgär wirkt. So reden
sie
halt, diese Protagonisten, die in jedem
Kapitel
tiefer in den Sumpf aus Verbrechen
und Korruption
hineinrutschen.
Und wenn etliche Messerstiche, Streifschüsse
und Tritte in die Weichteile später
doch
noch alles ein glückliches Ende findet,
dann
atmet der Leser zwar erleichtert auf
- kann
aber gleichzeitig ein leises Bedauern
über
das Ende einer wunderbaren Story, aus
der
fast eine Liebesgeschichte hätte werden
können,
nur schwer unterdrücken.
Miss Sophie
***
Zartbesaitete Leser werden geneigt
sein,
das Buch nach Lesen des Epilogs zunächst
wieder schnellstens aus der Hand zu
legen.
Mit außerordentlicher Liebe zum Detail
-
wobei Blutströme, zerschmetterte Schädel
und klirrendes Porzellan gleichermaßen
detailliert
geschildert werden - lässt Carlo Lucarelli
gnadenlos Menschen sterben, zerfetzen
und
hinrichten.
Wobei, das muss man dem Autoren zugestehen,
er gekonnt farbliche Kontraste setzt,
so
dass selbst weniger phantasievolle
Menschen
keinerlei Mühe haben, sich das grauenhafte
Szenario in sämtlichen Ekel erregenden
Einzelheiten
vorzustellen.
Nach dem anfänglichen Inferno beginnt
der
Antiheld des Buches, Coliandro, degradierter
Polizist im internen Kantinendienst,
in gewöhnungsbedürftiger
Sprache und aus seiner Perspektive
eine kleine
Geschichte zu erzählen, die selbstverständlich
- wir bleiben ja im Klischee und in
Italien
- von, mit und über die Mafia bzw.
ähnlich
geartete Gruppierungen handelt.
Nach den ersten knappen Kapiteln wird
zumindest
eines ganz klar: Das Wort "Scheiße"
lässt sich in wesentlich vielfältigerer
Form
anwenden, schreien, hauchen, seufzen,
lispeln,
flüstern, brüllen, ächzen, jammern,
singen
oder auch mal zitieren, als jeder normal
Sterbliche zuvor geahnt hätte.
Variantenreich hierbei die Vielzahl
der fäkalen
Schimpftiraden, die das Wort entsprechend
ergänzen oder ihm die besondere Note
verpassen.
Alleine diese ausdrucksstarke Gewandtheit
des Autors bringt jeden sprachlich
Interessierten
dazu weiter zu lesen, auch wenn die
Trotteleien
Coliandros recht schnell zu langweilen
beginnen.
Neudeutsch ausgedrückt ist Coliandro
ein
typischer Loser Typ, jemand, dem es
immer
und immer wieder gelingt in sein -
bereits
erwähntes - Lieblingswort zu greifen,
tief
und innig.
Nicht umsonst darf er keine Fälle mehr
lösen,
sondern plagt sich mit Joghurteinkäufen
und
kaufmännischen Spielereien, was seine
Ehre
gehörig ankratzt, sein Selbstbewusstsein
eher weniger.
Wie der Zufall es so will, befindet
er sich
einmal mehr am falschen Ort zur falschen
Zeit und trifft so auf eine "alte"
Bekannte, Marke eigensinniges Punkermädchen,
genannt "Nikita", die Coliandro
in eine blutrünstige Angelegenheit
hineinzieht.
Nikita, eigentlich Simona, weiß selbstverständlich
nichts von Coliandros Degradierung,
was zu
einem weiteren, aber harmlosen Verwirrspiel
führt.
Es geht, natürlich, um eine Menge Geld
und
worum sonst ist nicht wirklich wichtig
in
diesem Roman.
Neben Coliandros Berichten darf der
hoffentlich
mit einem guten Gedächtnis gerüstete
Krimifan
teilhaben an diffusen Abhörprotokollen,
Zeitungsberichten,
Polizeiprotokollen und Gesprächsfetzen,
deren
Sinn zuweilen schleierhaft bleibt,
den Lesefluss
jedoch nicht weiter hemmt.
Um weitere Klischees erfolgreich zu
erfüllen
kommt es am Ende zu dem, was Mitfiebernde
sich wünschen und erhoffen.
Doch halt, nicht ganz, die Liebe bleibt
auf
der Strecke, aber das ist stimmig,
das passt
schon ins Gesamtbild.
Carlo Lucarelli spricht mit seinem
Roman
Liebhaber des skurrilen Humors an.
Wer diese
Eigenschaft besitzt, der wird das Buch
als
wahren Lesegenuss empfinden.
Diejenigen jedoch, denen nicht gleich
bei
jedem sowohl trivialen als auch vulgären
Gefluche ein Lacher über die Lippen
rutscht,
werden das Buch aus der Hand legen,
zufrieden
sein über wenige Stunden seichter Unterhaltung
und es dann schlicht und schnell vergessen.
Kalle Blomquist
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