Schutzengel
Carlo Lucarelli
Original: Il giorno del lupo
Goldmann TB
ISBN 3-442-54186-7



Die junge, hübsche und anarchische Nikita, die als Moped-Kurierfahrerin ein rätselhaftes Päckchen durch einen dummen Zufall nicht ausliefern kann, sucht Rat und gerät an ihren alten Bekannten Coliandro.
Der wäre so gerne ein Clint Eastwood-Inspektor, hat aber nur einen ruhmlosen Abstieg vom Streifenpolizisten zum Leiter der Kantinenbeschaffung hinter sich.
Der verliebte Versager Coliandro versucht, am Rande der Legalität den Helden zu spielen und lässt keine Gelegenheit aus, die "Wölfe" der Mafia auf seine und Nikitas Spur zu lenken.
Nur Schutzengel können im Showdown helfen.



Rezension:
Sie haben lange nicht gelacht?
Dann nichts wie hin in die nächste Buchhandlung und diesen Titel besorgt - Sie werden es nicht bereuen.
Da wo Inspektor Clouseau, selbst wenn er das tut, was gemeinhin als "Mist" bezeichnet wird, immer noch am Ende eine Beförderung erhält, geht es seinem italienischen Kollegen Coliandro, dem Ich-Erzähler, leider ganz anders. Dieser arme Tropf, der mit Vorliebe in nur jedes verfügbare Fettnäpfchen tritt und dabei die Zehen seiner Vorgesetzten und Kollegen auch nicht auslässt, der wird wegen diverser Verfehlungen in die Materialbeschaffung der Kantine versetzt - wo er als eine seiner ersten Amtshandlungen aus Versehen 10.000 Becher Blaubeerjoghurt bestellt ...
Und ausgerechnet diesem Menschen, dessen zweiter Vorname "Unglücksrabe" lauten könnte, erzählt die aus Lucarellis gleichnamigen Roman (ebenfalls mit Coliandro in der Hauptrolle) bereits bekannte "Nikita" eine sonderbare Geschichte, die ihr während ihrer Tätigkeit als Fahrradkurier zugestoßen ist. Um einen Haufen Geld geht es da, sowie eine Kassette und eine Diskette und um die Tatsache, dass das Mädchen mit der Lederjacke, den Springerstiefeln, Netzstrümpfen und dem Minirock nicht wirklich weiß, was sie nun tun soll ...
Als Nikita (die eigentlich Simona heißt) dann feststellt, dass Coliandro nicht etwa aufgestiegen sondern im Gegenteil der selbe Trottel geblieben ist, wie im ersten Band, ist es bereits zu spät: Da stecken der Mann und das Mädchen schon bis zum Hals im Blut einer Leiche ohne Gesicht und die Verfolgung durch Mafia und Behörden lässt auch nicht lange auf sich warten.
Mit einer so temporeichen Schreibe, dass man als Leser selbst die Beine in die Hand nehmen und so weit als möglich wegrennen möchte, von dieser verfahrenen Situation, hetzt Autor Lucarelli uns durch 140 Seiten voller Witz, Ironie, Action und Spannung.
Er schreckt nicht davor zurück, sich selbst (unter dem Deckmantel eines Journalisten) in die Handlung einzubringen, deren Erzählablauf immer wieder alterniert wird mit Nachrichtensprengseln, Ausschnitten aus dem Polizeibericht, Zeitungsartikeln und köstlichen Abhörprotokollen. Gerade im Zusammenhang mit letzteren gelingt es dem Mitbegründer der literarischen Zirkels "Gruppo 13" die wohl auch in der Realität nicht viel weniger absurden italienischen Verhältnisse süffisant offen zu legen, etwa wenn der Abhörvorgang der Zollfahnung unterbrochen werden muss, weil ein "Spannungsabfall der Batterien" vorliegt ...
In den skurrilen und aberwitzigen Szenen - in denen das Blut durchaus auch einmal in Strömen fließen darf - seines ereignisreichen Plots verwendet Lucarelli eine ausgesprochen bildreiche Sprache, in der selbst der zahlreiche Gebrauch einschlägiger Ausdrücke weder aufgesetzt noch abstoßend vulgär wirkt. So reden sie halt, diese Protagonisten, die in jedem Kapitel tiefer in den Sumpf aus Verbrechen und Korruption hineinrutschen.
Und wenn etliche Messerstiche, Streifschüsse und Tritte in die Weichteile später doch noch alles ein glückliches Ende findet, dann atmet der Leser zwar erleichtert auf - kann aber gleichzeitig ein leises Bedauern über das Ende einer wunderbaren Story, aus der fast eine Liebesgeschichte hätte werden können, nur schwer unterdrücken.

Miss Sophie


***

Zartbesaitete Leser werden geneigt sein, das Buch nach Lesen des Epilogs zunächst wieder schnellstens aus der Hand zu legen. Mit außerordentlicher Liebe zum Detail - wobei Blutströme, zerschmetterte Schädel und klirrendes Porzellan gleichermaßen detailliert geschildert werden - lässt Carlo Lucarelli gnadenlos Menschen sterben, zerfetzen und hinrichten.
Wobei, das muss man dem Autoren zugestehen, er gekonnt farbliche Kontraste setzt, so dass selbst weniger phantasievolle Menschen keinerlei Mühe haben, sich das grauenhafte Szenario in sämtlichen Ekel erregenden Einzelheiten vorzustellen.
Nach dem anfänglichen Inferno beginnt der Antiheld des Buches, Coliandro, degradierter Polizist im internen Kantinendienst, in gewöhnungsbedürftiger Sprache und aus seiner Perspektive eine kleine Geschichte zu erzählen, die selbstverständlich - wir bleiben ja im Klischee und in Italien - von, mit und über die Mafia bzw. ähnlich geartete Gruppierungen handelt.
Nach den ersten knappen Kapiteln wird zumindest eines ganz klar: Das Wort "Scheiße" lässt sich in wesentlich vielfältigerer Form anwenden, schreien, hauchen, seufzen, lispeln, flüstern, brüllen, ächzen, jammern, singen oder auch mal zitieren, als jeder normal Sterbliche zuvor geahnt hätte.
Variantenreich hierbei die Vielzahl der fäkalen Schimpftiraden, die das Wort entsprechend ergänzen oder ihm die besondere Note verpassen.
Alleine diese ausdrucksstarke Gewandtheit des Autors bringt jeden sprachlich Interessierten dazu weiter zu lesen, auch wenn die Trotteleien Coliandros recht schnell zu langweilen beginnen.
Neudeutsch ausgedrückt ist Coliandro ein typischer Loser Typ, jemand, dem es immer und immer wieder gelingt in sein - bereits erwähntes - Lieblingswort zu greifen, tief und innig.
Nicht umsonst darf er keine Fälle mehr lösen, sondern plagt sich mit Joghurteinkäufen und kaufmännischen Spielereien, was seine Ehre gehörig ankratzt, sein Selbstbewusstsein eher weniger.
Wie der Zufall es so will, befindet er sich einmal mehr am falschen Ort zur falschen Zeit und trifft so auf eine "alte" Bekannte, Marke eigensinniges Punkermädchen, genannt "Nikita", die Coliandro in eine blutrünstige Angelegenheit hineinzieht.
Nikita, eigentlich Simona, weiß selbstverständlich nichts von Coliandros Degradierung, was zu einem weiteren, aber harmlosen Verwirrspiel führt.
Es geht, natürlich, um eine Menge Geld und worum sonst ist nicht wirklich wichtig in diesem Roman.
Neben Coliandros Berichten darf der hoffentlich mit einem guten Gedächtnis gerüstete Krimifan teilhaben an diffusen Abhörprotokollen, Zeitungsberichten, Polizeiprotokollen und Gesprächsfetzen, deren Sinn zuweilen schleierhaft bleibt, den Lesefluss jedoch nicht weiter hemmt.
Um weitere Klischees erfolgreich zu erfüllen kommt es am Ende zu dem, was Mitfiebernde sich wünschen und erhoffen.
Doch halt, nicht ganz, die Liebe bleibt auf der Strecke, aber das ist stimmig, das passt schon ins Gesamtbild.
Carlo Lucarelli spricht mit seinem Roman Liebhaber des skurrilen Humors an. Wer diese Eigenschaft besitzt, der wird das Buch als wahren Lesegenuss empfinden.
Diejenigen jedoch, denen nicht gleich bei jedem sowohl trivialen als auch vulgären Gefluche ein Lacher über die Lippen rutscht, werden das Buch aus der Hand legen, zufrieden sein über wenige Stunden seichter Unterhaltung und es dann schlicht und schnell vergessen.

Kalle Blomquist